Geschehen im Juni 1995 im Großkaufhaus Kastner & Öhler in der Sackstraße in Graz.
Kundin: Ist das eine Granatkette?
Verkäufer: Ja, das ist eine Granathalskette. Wenn Sie es genau wissen wollen, der Granat ist ein Almandin. Wenn Sie es noch genauer wissen wollen, der Granat kommt aus Indien.
Kundin: Ich möchte keinen Almandin, ich möchte eine Granatkette. Das ist eine Granatkette?
Verkäufer: Ja, das ist eine Granatkette.
Kundin: Gibt es in Österreich auch Granat?
Verkäufer: Ja, es gibt in Österreich auch Granat. Im Zillertal, im Ötztal und anderswo. Granat kommt sehr häufig vor.
Kundin: Dann kaufe ich die Kette. Ich hätte nämlich gerne eine Granathalskette aus Österreich.
Was ist da? Was sieht, hört, bemerkt der Mensch?
Diese "Kundin" hört überhaupt nicht zu. Sie will nur das hören, was sie hören will, was sie sich vorstellt oder vorstellen kann. Alle weiteren Informationen, die der Verkäufer ihr mitteilt, nimmt sie nicht zur Kenntnis. Sie hört sie zwar, reagiert aber nicht, bemerkt sie wahrscheinlich überhaupt nicht. Sie will ausschließlich nur die Betätigung ihrer eigenen Welt. Dieser Fall ist harmlos und bleibt ohne weitere schwerwiegende Folgen. Aber diese Frau verhält sich nicht nur beim Kauf dieser Kette so, sondern sie wird in jeder Situation, ganz gleich, ob es um Fremde, ihre Kinder oder um die Nudelsuppe geht, dasselbe Verhalten zeigen.
Diese Einstellung ist allgegenwärtig und hat großen Einfluss auf das allgemeine "geistige" Klima in einer Kultur.
Für mich als Künstler ist diese Tatsache von aller größter Wichtigkeit.
Was sehe, wie sehe, höre, "bemerke" ich? Was ist da, geschieht jetzt und was nehme ich davon wahr? Dies ist offensichtlich eine jener Kinderfragen, und solche Fragen dürfen nicht gestellt werden, außer von Kindern. Zumindest dürfen sie nicht so gestellt werden, man muss differenzieren.
"Was meinen Sie genau?"
Damit ist alles tot.
Ich habe auf diese Art, bei diesen Fragen, nie die "richtigen" Worte finden können.
Es passt nichts.
Ich kann es so nicht "genau" meinen.
Es ist so (ungefähr).
Ich tappe im Stockfinsteren, ich empfinde mich. Ich weiß, ich existiere, und ich bilde mir ein, unten ist dort, worauf ich stehe. Ich "bewege" mich und renne mir dabei den Schädel an. Es tut weh, und die hellen Sterne, die ich dabei sehe, beleuchten gar nichts. Aber oben ist etwas, denn mein Schädel ist für mich oben, wie unten dort ist, wo meine Füße sind. Jetzt tappe ich danach und erkenne etwas Rundes oder Eckiges oder was auch immer. Ich mache ein "Bild" davon. Und so geht es mit abertausend "Dingen", die ich zu Bildern mache. Aber es ist noch immer stockfinster, und was die "abertausend" Dinge sind, weiß ich noch immer nicht.
So geht es allen, und natürlich auch dieser Kundin. Sie hat sich, was weiß ich wie oft, den Schädel angerannt und will ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr. Es tut zu weh. Sie setzt sich nieder und betrachtet nunmehr alles, gemäß den von ihr im Laufe der Jahre gemachten Bildern, aus "ihrer" Warte. Sie hat kein Bild vom Almandin, sie will kein Bild vom Almandin, und darum gibt es ihn nicht. Sie hat nur ein Bild vom Granat.
Künstlern geht es genau so. Sie haben aber offensichtlich ein Hilfsmittel, eine Methode.
Künstler besitzen eine "Taschenlampe", wobei die Batterie unterschiedlich stark ist. Woher und von wem sie die haben, weiß ich nicht. Damit versuchen sie, "sichtbar" zu machen.
Ich möchte dies anhand meiner Arbeitsweise illustrieren.
Ich male ein Bild.
Die Vorstellung, was es werden soll, ist äußerst verschwommen. Ich will es auch gar nicht genau wissen. Ich will noch kein "Bild" im Kopf. Es wäre bloß ein "Kopfbild". Man könnte jetzt meinen, das dieses "Kopfbild" reicht. Es reicht nicht.
Der manuelle Anteil am Bild eröffnet mir Möglichkeiten und Überraschungen. die mir der "Kopf" nicht geben kann. Eine "Plattheit": Ich bestehe aus "Geist" und "Körper". Ich bin nicht nur Geist und nicht nur Körper (falls es so etwas überhaupt gibt). Und auch "Kunst" muss aus beiden bestehen. Eine "geistige" Reise zum Nordpol ist ein Nichts, da mein Körper nicht dabei ist, und ohne ihn entfällt die Dimension des Körpers. Die "Reise" ist um Dimensionen ärmer. Der mögliche Einwand, dass ich mir meinen Körper "einbilde", nützt mir gar nichts. Fällt mir ein ausreichend großer Stein auf den Schädel, bin ich tot. Der Stein und ich sind Teil derselben "Welt". Wenn ich nur ein "Geist" wäre, könnte mich der Stein nicht erschlagen, wie in jedem Geistermärchen zu sehen ist. Eine digitalisierte Wurstsemmel (Abb.1) macht nur einen ebenso digitalisierten Menschen satt. Herr Heller hat unrecht, wenn er meint, dass die wahren Abenteuer im Kopf seien. Sie sind auch im Kopf, aber nicht nur und nur teilweise.
Nun mache ich die Leinwand mit verschiedenen Farbschichten beinahe schwarz. Dann male ich fast nur mehr mit Weiß, dem Licht schlechthin (Abb.3). Und ich bin selbst überrascht, muss unbedingt überrascht sein, was ich zu sehen bekomme. Wenn ich nicht überrascht bin, ist die Arbeit misslungen, und ich schmeiße sie weg.
Ich sehe, was ich gemacht habe. Aber ich weiß nicht, was und wie ich es gemacht habe, und ich weiß nicht, was es ist. Ich sehe einen aufgespannten Raum. Etwas ist weit weg, das andere näher. Der Fels ist Fels, ich bin überzeugt davon, dass es einer ist. Auch der Körper fühlt, dass es Fels ist. Aber die Leinwand ist flach. Ich weiß nicht, welcher raum da entstanden ist. Das Malen, das heißt das Aufspannen des Raumes halte ich kaum länger als eine halbe Stunde aus, dann ist die Konzentration weg, und ich beginne zu pfuschen.
Außerdem kann ich mir nicht "denken", dass es die "Schaffensfreude" oder den "Schaffensrausch" tatsächlich gibt. ich habe derartiges nie erlebt und glaube auch nicht, dass irgendein Künstler derartiges kennt. ich weiß, dass dies eine "gewagte" Aussage ist. Meine Erfahrungen damit sehen so aus.
Ich habe nur ganz gewöhnliche Angst.
Einige Quadratmeter Leinwand, auf der was werden soll. Einige Farben, ein paar Pinsel als Werkzeug und Material. Die Sache ist hoffnungslos, wie soll das gehen? Vollkommene Verunsicherung. Dasselbe Gefühl, wie wenn du mitten im Gewitter steckst, alles summt, du machst dich so klein wie möglich, duckst dich auf den Boden, jede Stelle ist gleich, und du weißt nie, wo der Blitz einschlägt. Diese totale Abwesenheit von Sicherheit ist eine sehr einschneidende Erfahrung. Mit dem ersten Pinselstrich beginnt der Prozess der rasend schnellen, lawinenartigen, andauernden Entscheidungsfindung. Aus den zuerst beinahe unendlichen Möglichkeiten muss laufend entschieden werden und der Spielraum wird immer enger, bis zum Stillstand. Die Arbeit ist fertig. Wenn alle Entscheidungen, die ganze Reihe, richtig (im Sinne der Eigengesetzlichkeit der Arbeit) sind, ist das Bild gelungen. Eine falsche Entscheidung innerhalb der Entscheidungsreihe ruiniert die Arbeit vollkommen. Eine "falsche" Entscheidung ist für die meisten Menschen wahrscheinlich nicht sichtbar. Die Betrugs-Selbstbetrugs-Möglichkeiten sind daher beinahe unendlich.
Dieses rasend schnelle Entscheiden-Müssen ist ein unglaublich intensives (zugegebenermaßen einseitiges) Gehirntraining, das natürlich das Verhalten, die Weltsicht usw. der Künstler prägt.
Einige Worte zu den digitalen oder neuen Medien, die bei vielen Künstlern so beliebt sind. Diese vorhin beschriebene
Entscheidungsreihe ist in den Möglichkeiten dieser Medien nicht enthalten.
Im Rahmen der Möglichkeiten des Programms sind sehr viele, minimal unterschiedliche Variationen möglich, die umfangreiche künstlerische Freiheiten suggerieren. Die Künstler verlieren sich in diesen Variationen und glauben, durch die rasche und mühelose Herstellung einer weiteren Variation, dass die künstlerischen Möglichkeiten sehr groß sind. Dies ist ein Trugschluss. Hier wird schöpferische Vielfalt mit Variationsmöglichkeit verwechselt. Als Beispiel möchte ich die vielen Variationen von schwarzweiß gefärbten Hauskatzen anführen. Aus diesem äußerst engen Gesichtswinkel der "neuen Medien" betrachtet, ist das "Ende" der Kunst und der Künstler erreicht, was ja auch gesagt wird und wobei die Begriffsverwirrung gar nicht wahrgenommen, dass mit diesen Medien Kunst gar nicht möglich ist.
Ein Überdruss an der "Kunstszene" und als Ergebnis einer künstlerischen Standortüberprüfung um die Mitte der 80er Jahre wollte ich die Unterschiede des "künstlerischen" zum "wissenschaftlichen" Denken erfahren. ich wollte aus dem "Instantkunsttümpel" entkommen und andere "Bilder" sehen lernen, um meine Möglichkeiten zu erweitern. Erste Ergebnisse sind vorhanden. Aber dies ist eine andere Geschichte.
Ich torkle durch die Finsternis
Falle dauernd in Löcher
Versuche pausenlos Krücken zu schnitzen
Um den Halt nicht ganz zu verlieren.
So rase ich
Immer schneller werdend
Der scheinbar harten Mauer
meines Todes entgegen.
(Dieses Gedicht habe ich vor mehr als 20 Jahren geschrieben, und es ist auch jetzt noch jeder Buchstabe richtig.)
Josef Taucher: Ich baue mir einen Sonnenaufgang mit Luftschloss, das brauche ich nicht putzen. Aufsatz. Erschienen in: Jahresbericht Landesmuseum Joanneum Graz, Neue Folge 24 – Graz 1995, S. 31-35 (3 Abb.).